Hypnose und Achtsamkeit

Zwei Schwestern auf dem Tandem

In der Therapie von psychischen Störungen ergänzen sich Hypnose und Achtsamkeit in optimaler Weise. Das Wissen um die Grundlagen der Achtsamkeit und ihre Wurzeln in der buddhistischen Psychologie bereichert das therapeutische Vorgehen um Modelle zur Linderung von Leiden und das damit verbundene Erfahrungswissen. Für Therapeuten wie Klienten eröffnet das neue Wege bei der Stressbewältigung, der Prophylaxe von Burnout, bei Depressionen, bei der Emotionsregulation, bei Traumafolgen und Angst, bei Schmerz, Sucht und Schlafstörungen, aber auch bei onkologischen Erkrankungen.

Der Autor Michael Harrer führt die Anwendung von Hypnose und Achtsamkeit in der Psychotherapie umfassend und fundiert zusammen. Das Buch diskutiert Wirkfaktoren, Möglichkeiten und Grenzen der kombinierten Nutzung und vermittelt gut nachvollziehbar deren praktische Umsetzung. Sie wird erleichtert durch Anleitungen zu Trancen und Achtsamkeitsübungen sowie durch Vorschläge zur wörtlichen Formulierung von Trancen bzw. von Trancebausteinen.

Hinweise zur störungsspezifischen Kombination von Hypnose und Achtsamkeit helfen bei der gezielten Auswahl der beschriebenen Techniken.

Vorwort

Es ist seltsam, dass zwei uralte mentale Praktiken sich heute im Zeitalter der künstlichen Intelligenz in der Psychotherapie begegnen. Hypnose, ein Ritual, das sich schon frühzeitig bei fast allen Naturvölkern und später in vielen Hochkulturen findet — von Südamerika über Afrika und Europa bis in die Tundra —, und Achtsamkeit, die sich aus den buddhistischen Meditationstraditionen Asiens herleitet und mehrere tausend Jahre alt ist. Ich selbst bin durch die nun schon jahrelang währende Zusammenarbeit mit Halko Weiss in einem Paartherapie-Ausbildungsprogramm intensiv mit Achtsamkeit in Berührung gekommen, und Michael Harrer, den ich als Hypnotherapeuten schätze, stellt das Bindeglied zwischen uns und beiden Methoden dar.

Beide Vorgehensweisen streben veränderte Bewusstseinszustände an, die allgegenwärtige Beschwernisse des Lebens leichter ertragen lassen. Doch scheinen sie diametral entgegengesetzte Wege zu gehen. Achtsamkeit strebt Bewusstwerdung, Hypnose unwillkürliche Verarbeitung an, die ohne bewusste Einflussnahme stattfindet. Achtsamkeit lenkt den Blick auf das gegenwärtige Erleben, Hypnose hat Vergangenheit und Zukunft mit im Blick. Hypnose hat offensichtlich Veränderung zum Ziel; Achtsamkeit dagegen nimmt die Dinge so, wie sie sind. Hypnose nutzt oft die Regression in eine kindliche Lernhaltung; Achtsamkeit spricht den erwachsenen, selbstverantwortlichen Menschen an. Achtsamkeit hält dazu an, in einer beobachtenden Haltung zu bleiben, wogegen Hypnose die Menschen bestimmte Erfahrungen emotional absorbiert vorwegnehmen oder nacherleben lässt.

Michael Harrer beschreibt, wie diese komplementären Behandlungsmethoden sich nicht etwa gegenseitig ausschließen, sondern sich als Tandem in der Psychotherapie wirkungsvoll befördern. So möchte man mit Achtsamkeit jemanden aus einer Problemtrance dehypnotisieren und maladaptive Reaktionen deautomatisieren. Ergänzend kann man mithilfe von Hypnose den Patienten in eine Lösungstrance versetzen und adaptive Verhaltensmuster automatisieren. Man kann sogar posthypnotische Achtsamkeit in der Trance suggerieren. Mit Achtsamkeit lassen sich Fehlwahrnehmungen entdecken, die man mit Hypnose suggestiv korrigieren kann. Während die Disidentifikation von einer schmerzhaften Erfahrung u. U. eine große Herausforderung sein kann, lädt die hypnotische Trance dazu ein, durch Dissoziation dem Leiden seine affektive Macht zu nehmen.

Michael E. Harrer, der als Experte in beiden Feldern über lange Erfahrung verfügt, nimmt in diesem Buch eine differenzierte und tiefgründige Analyse der ungleichen mentalen Methoden vor. Hypnose und Achtsamkeit werden dem Leser in anschaulichen Beispielen und einer Vielzahl von praktischen Übungen nahegebracht, sodass er mühelos ihre Unterschiede und Überschneidungen einschätzen kann. Auch die neurobiologische Basis dazu wird in leicht verständlicher Form erläutert. Am Ende versteht der Leser, warum man gut daran tut, Hypnose und Achtsamkeit gleichermaßen als heilsame Bewußtseinszustände zu nutzen, was in der Anwendung in unterschiedlichen Gebieten wie Angst, Stress, Traumafolgestörungen oder Schmerz demonstriert wird. Übungen und Anleitungen helfen bei der konkreten Umsetzung in die Praxis.

Die Unterstützung von Veränderung einerseits und Gleichmut gegenüber den belastenden Momenten im Erleben andererseits können sich so wirkungsvoll ergänzen.

Dirk Revenstorf

EINFÜHRUNG

Im Jahre 1888 wurde der 16-jährige Georges Gurdjieff Zeuge eines seltsamen Vorfalls: Er bemerkte einen kleinen Jungen, der weinte und sich auf eigenartige Weise bewegte. Er war in einem Kreis gefangen, den andere Jugendliche um ihn herum im Sand gezogen hatten. Als Gurdjieff einen Teil dieses »magischen« Kreises auslöschte, entstand eine Öffnung, die der Junge augenblicklich nutzte, um seinen Peinigern zu entkommen (Gurdjieff 2013). Gurdjieff war so beeindruckt, dass er später sein Leben der Frage widmete, in welchen Kreisen wir Menschen oft gefangen sind und wie wir uns aus ihnen befreien können. So wurde er zu einem Wegbereiter in einem Feld, um das sich dieses Buch dreht: dem Spannungsfeld zwischen heilsamen und unheilsamen Trancen und der Achtsamkeit, die uns aus diesen Trancen erwachen lässt.

Am Beginn meiner Tätigkeit weckten die von Milton Erickson inspirierten Therapieformen meine Begeisterung. Sie wurde später ergänzt durch die Leidenschaft für die Achtsamkeit, wie sie in der Hakomi-Methode vermittelt wird. So habe ich mich auf den Weg gemacht, beide in meiner psychotherapeutischen Praxis zu verbinden. Das Verständnis, das ich auf diesem Weg bisher erlangte, möchte ich mit Psychotherapeuten aller Schulen teilen. Ich möchte alle jene ansprechen, die mehr über Hypnosepsychotherapie und Achtsamkeit erfahren wollen, um sie für sich selbst und ihre Klienten zu nutzen.

Der erste Schritt der Integration von Achtsamkeit in die Psychotherapie besteht darin, sie für sich selbst zu entdecken und zu üben und den Klienten in der Therapie als achtsamer Therapeut in Zuständen von Achtsamkeit zu begegnen. Mit diesen Zuständen kann man auf unterschiedlichsten Wegen vertraut werden, sodass es auch Therapeuten gibt, die man als achtsam beschreiben könnte, obwohl sie noch nie etwas von Achtsamkeit gehört haben.

Viele Psychotherapeuten reklamieren für sich, die Achtsamkeit ohnehin schon in ihre Arbeit zu integrieren. Und sie haben recht, zumindest teilweise. Einzelne Elemente der Achtsamkeit finden sich in den unterschiedlichsten Psychotherapieverfahren, wie etwa die Akzeptanz, eine allparteiliche Beobachterhaltung, die Betonung Hier und Jetzt, die »gleichschwebende Aufmerksamkeit«  oder Wege des Umgangs mit Gedanken und Gefühlen, wie sie in der dritten Welle der Verhaltenstherapie vermittelt werden. Man kann das Konzept der Achtsamkeit mit einem Haus vergleichen, dessen Zimmer großteils schon bekannt sind und doch in dieser Kombination zu einem neuen Haus werden. Wenn man sie als Teile dieser Ganzheit betrachtet, erscheinen die einzelnen Zimmer in einem neuen Licht.

Die Kenntnis der Konzepte rund um die Achtsamkeit und deren Nutzung in der Therapie wird als achtsamkeitsinformierte Therapie bezeichnet. Dabei muss die Achtsamkeit nicht explizit benannt werden, das  ist die zweite Form der Integration. Hierzu finden sich in diesem Buch Sichtweisen aus dem jahrtausendealten Erfahrungswissen der buddhistischen Psychologie. Sie beschäftigen sich mit der Entstehung und der Befreiung von Leiden und sind oft in Geschichten und Metaphern verpackt.

Die dritte Form der Integration ist die achtsamkeitsbasierte Therapie. Dabei wird die Achtsamkeit als Konzept und in Übungen vermittelt. Oft wird auch eine Achtsamkeitspraxis außerhalb der Therapiestunden empfohlen. Auch dazu sind eine Vielzahl von Übungsvorschlägen enthalten.

In einer achtsamkeitszentrierten Therapie, als vierte Form, wird die Achtsamkeit über längere Strecken durchgehend zur Selbsterforschung genutzt. Dabei sind sowohl der Therapeut als auch der Client in einem Zustand der Achtsamkeit und wenden sich »online« der gegenwärtigen Erfahrung des Klienten zu. Auch zur Frage, wie und wozu man in der Therapie Zustände der Achtsamkeit einladen kann, gibt es viele Anregungen.

Hypnose und Achtsamkeit sind so verwandt und doch so verschieden, dass sie sich gut kombinieren lassen. Wie zwei Flüsse schlängeln sich beide nebeneinander durch die Landschaft, entfernen sich voneinander, nähern sich einander wieder an und manchmal fließen sie sogar ein Stück gemeinsam. Auch die Darstellungen in diesem Buch mäandern immer wieder zwischen beiden hin und her oder weisen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin. Nach Hinweisen auf die Kontexte, aus denen beide stammen, wird ihr Einsatz in der psychotherapeutischen Praxis erläutert. Bereits existierende Modelle der Integration von Hypnose und Achtsamkeit werden vorgestellt.

Zwei rote Fäden, die Trance und Achtsamkeit verbinden, durchziehen das Buch. Der erste bezieht sich darauf, dass beide als spezielle Zustände des Bewusstseins verstanden werden, die in der Psychotherapie zu Heilungsprozessen beitragen können.

Dabei erweist sich aber nicht nur der Bewusstseinszustand der Klienten, sondern auch jener der als bedeutsam. Trancen führen aus alten Kreisen in neue Welten, sie ermöglichen gesundheitsfördernde und korrigierende Erfahrungen. Die Freiheit, sich auf neuen Wegen ganz selbstverständlich zu bewegen, kann man in Trance genießen und einüben. Achtsamkeit kann im Sinne einer De-Hypnose befreien, indem sie uns aus Alltags und Problemtrancen erweckt (Waking-up).

Der rote Faden betrifft die integrierende Wirkung von Hypnose und Achtsamkeit. Die Kreise, die wir mit ihrer Hilfe ziehen, werden weiter.  Wir kommen mit immer größeren Bereichen unserer Innenwelt, mit unserem Körper, mit unserem erzählten Leben, mit anderen Menschen oder mit dem großen Ganzen in Kontakt und Resonanz. Hypnose und Achtsamkeit sind Wege, uns zu entwickeln und zu wachsen (Growing-up).

Das Kernstück des Buches bilden die folgenden sieben Wirkprinzipien von Hypnose  und Achtsamkeit. Die Darstellung auf dieser Ebene soll der Vergleichbarkeit dienen, aber auch der Anschlussfähigkeit an das Vorgehen in anderen Schulen:

(1.) Beide nutzen auf unterschiedliche Weise die Lenkung der Aufmerksamkeit. Dabei spielt bei der Achtsamkeit der Körper eine wichtige Rolle.
(2.) In Trancen begibt man sich auf Reisen in die Vergangenheit und Zukunft. In der Achtsamkeit wendet man sich der Gegenwart zu.
(3.) In der Trance lassen sich die erwünschten Erfahrungen assoziiert erleben und Unerwünschtes aus einer dissoziierten Wahrnehmungsposition betrachten. Das teilhabende Beobachten der Achtsamkeit ermöglicht eine Disidentifikation: Man kann Gedanken, Gefühle und Persönlichkeitsanteile zum Gegenstand der Beobachtung machen, sie auf neue Weise sehen und nutzen und ihnen ihre unheilsame Macht entziehen.
(4.) Wenn es gilt, gewisse Erfahrungen so zu akzeptieren, wie sie sind, wirkt das Kultivieren von Gleichmut, Mitgefühl und Selbstmitgefühl.
(5.) Hypnose und Achtsamkeit ergänzen einander in der Vermittlung von korrigierenden Erfahrungen und der dazu notwendigen vorangehenden Problemaktualisierung
(6.) Beide bereichern ein ressourcenorientiertes Vorgehen.
(7.) Als Zustände der Therapeuten unterstützen beide die Gestaltung heilsamen therapeutischen Beziehungen.

Weder die Hypnose noch die Achtsamkeit sind Allheilmittel, auch wenn wir uns das manchmal wünschen. Beide stoßen an ihre Grenzen, denn ihr Einsatz sollte nicht nur zum Therapeuten, sondern auch zum Klienten und zu dessen Problemen und Zielen passen. So gibt das letzte Kapitel Einblicke in die störungsbezogene Anwendung von Hypnose und Achtsamkeit im Tandem. Dabei werden die basalen Wirkprinzipien konkretisiert, wie sie in unterschiedlicher Ausprägung zum Einsatz kommen und das Vorgehen plausibel machen.

Das Buch richtet sich an Therapeuten, aber ebenso an Personen, die Achtsamkeit lehren. Diese Personengruppe soll es für jene suggestiven Elemente sensibilisieren, die in vielen Anleitungen rund um die Achtsamkeit enthalten sind. Einblicke in die Hypnotherapie sollen die feinen Unterschiede deutlich machen, wie man eher Trancen induzieren und wie man eher Erwachen und Achtsamkeit einladen kann. Das Buch will das Erfahrungswissen der Hypnotherapie für die Vermittlung von Achtsamkeit nutzbar machen.

Möge die Lektüre und das Experimentieren mit den Übungen Ihrem eigenen Wohl und jenem Ihrer Klienten dienen und zu mehr Lebensqualität, Gesundheit und Freude an der Arbeit beitragen.

Michael E.  Harrer: Hypnose und Achtsamkeit. Zwei Schwestern auf dem Tandem. Heidelberg, Carl-Auer Verlag, 2018
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags